Offen gestanden, ich mochte meine Mutter nicht wirklich. Sie forderte Liebe und war selbst nicht imstande, ihre Liebe, falls vorhanden, mir gegenüber zu zeigen. „Die Tochter ist für die Mutter da.“ Diesen Glaubenssatz bekam ich schon als Kind eingetrichtert. Egal, was ich versuchte, um sie glücklich zu machen, es war nie genug. Sie war nicht zufriedenzustellen, zeigte vor allem Interesse an sich selbst und hatte einen verhängnisvollen Hang zu Katastrophen Nachrichten. Die Angst, vor Flüchtlingen und ausländischen Attentätern, war ihre treue Begleiterin. Unsere Sichtweisen waren, diplomatisch ausgedrückt, von jeher grundsätzlich unterschiedlich.
Ihre ständige Ängstlichkeit erdrückte meine Abenteuerlust und mich. Autoritäten wurden nicht hinterfragt, vor allem, wenn es sich um Männer handelte. Konflikten wich sie nach Möglichkeit aus. Meinem Bruder gegenüber brach sie regelmäßig ein und gab seinen Ausbrüchen um des lieben Frieden willens nach. Bis auf das Mal, als sie mit ihn als Kind mit dem Handfeger verprügelte. Mir gab sie auf andere Art das Gefühl, nicht richtig zu sein, wenn ich die Dinge anders sah als sie und das tat ich beinahe immer.
Ich war eigentlich ständig genervt von ihr, wenn ich ihren Monologen lauschend bei ihr war, und bin meiner gefühlten Pflicht als „gute Tochter“ nur widerwillig nachgekommen.
In Gesprächen mit anderen Angehörigen von pflegebedürftigen Eltern, höre ich häufig ähnliche Geschichten und Aussagen, wie „Meine Eltern haben mich eigentlich nie verstanden. Die haben sich nie für mich interessiert und wissen gar nicht, wer ich wirklich bin. Wir haben uns oft nur gestritten. Und jetzt soll ich mich um die kümmern?“
Die Kriegskindheit der Pflegebedürftigen als Ursache für Konflikte mit ihren pflegenden Eltern
Eine Ursache für die Konflikte zwischen den jetzt Pflegebedürftigen und ihren Kindern liegt in der unterschiedlichen Erfahrungswelt der Generationen. Die im, oder kurz nach dem Krieg aufgewachsenen (Kriegskinder) haben oft traumatische Erlebnisse durch den Krieg gemacht und tragen diese emotionalen Belastungen, solange sie leben, mit sich. Für viele von ihnen war es schwer, über ihre Erlebnisse zu sprechen und ihre Gefühle auszudrücken. Auf der anderen Seite stehen ihre Kinder (Kriegsenkel), die zwar nicht direkt vom Krieg betroffen waren, aber dennoch unter den Auswirkungen leiden können. Sie spüren oft eine gewisse Distanz zu ihren Eltern oder Großeltern, da diese über ihre Erfahrungen schweigen oder sie nur teilweise teilen. Die fehlende Kommunikationsfähigkeit der Eltern führt wiederholt zu Missverständnissen und Konflikten.
Die Liste der möglichen Auswirkungen von Kriegserfahrungen der pflegebedürftigen Eltern ist ebenso lang wie schwerwiegend. Dazu gehören u. a. posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), Angst und Depressionen, physische und psychische Entwicklungsstörungen, Verhaltensprobleme, geringes Selbstwertgefühl, Verhaltensprobleme, soziale Probleme, Entfremdung und Isolation.
Wer im Bombenhagel ums Überleben kämpft, hat keine Zeit über Gefühle nachzudenken und sich zu fragen: „Was macht das jetzt mit mir?“. Auch später wird eher funktioniert als reflektiert. Entsprechend wird diese Erwartung auch an die eigenen Kinder weitergegeben, die im vorgegebenen Rahmen funktionieren sollen.
Ängste, das ständige Erleben von Unsicherheit, von Mangel und Bedrohung verschwinden nicht, nur weil sie verdrängt wurden. Bei vielen führte dies zu einer emotionalen Labilität, die bis ins Erwachsenenalter anhielt und sich in Schwierigkeiten, angemessen mit Stress umzugehen und ihre Gefühle zu regulieren, niederschlug. Stimmungsschwankungen und impulsives Verhalten können eine Folge davon sein. Menschen, die eine Kindheit im Krieg erlebt haben, neigen dazu, in stressigen Situationen automatisch in einen Zustand der Kampf- oder Fluchtreaktion zu geraten.
Daraus resultieren:
1. Vermeidung von bestimmten Themen:
Menschen, die eine Kindheit im Krieg erlebt haben, neigen dazu, bestimmte Themen zu vermeiden, insbesondere solche, die mit den traumatischen Erlebnissen in Verbindung stehen. Dies führt zu
Problemen, sich, wenn es erforderlich wäre, offen über wichtige Aspekte ihres Lebens auszutauschen.
2. Vermeidung oder Schwierigkeiten beim Ausdruck von Gefühlen:
Die emotionale Belastung, die mit Kriegstraumata einhergeht, beeinträchtigt die Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und klar und angemessen auszudrücken. Dementsprechend stehen sie auch den Emotionen
ihrer Kinder oft hilflos gegenüber. Während manche also schweigen, zeigen andere möglicherweise intensive emotionale Reaktionen und explodieren ebenso heftig wie unerwartet. Beides führt zu
großen Irritationen bei den Gesprächspartner*innen.
3. Angst vor Konfrontation:
Kriegstraumata können dazu führen, dass Menschen Angst vor Konfrontation entwickeln. Sie haben zuweilen große Schwierigkeiten, ihre Meinungen offen zu äußern oder in Diskussionen für sich selbst
einzutreten.
4. Aggressives Kommunikationsverhalten:
Einige Menschen entwickeln aufgrund von Traumata aggressive Kommunikationsmuster. Diese können sich durch lautes Sprechen, schnelle Reizbarkeit, verbale Angriffe unter die Gürtellinie bis hin
durch Gewaltanwendung manifestieren.
Das Fatale ist, dass die Traumata der Eltern, an die Kinder weitergegeben werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Kinder von Eltern mit psychischen Belastungen und Kommunikationsstörungen nicht lernen, angemessen mit ihren Emotionen umzugehen und zu kommunizieren. Im Zusammenhang damit wird von Transgenerationaler Weitergabe gesprochen, die sich über mehrere Generationen erstreckt. In diesem Sinne ist es sehr wahrscheinlich, dass, wenn die Generation der Kriegsenkel pflegebedürftig wird, weitere Konflikte mit ihren Kindern aufkochen, die noch aus der Kriegskindschaft ihrer Eltern resultieren.
Empathie als Chance zur Lösung von Konflikten: Sich in die Lage der/des Anderen hineinversetzen
Wie viele andere der Kriegsenkel Generation habe ich meinen Eltern Vorwürfe gemacht. „Ihr versteht mich nicht!“, war einer davon. Der andere war „Ihr interessiert Euch nicht für mich!“. Mich mit dem Kriegskinder/Kriegsenkel Thema auseinanderzusetzen, geschah zuerst aus dem Wunsch heraus, mein Leiden an meinen Eltern zu heilen.
Die Qualität unserer Kommunikation und damit unserer Beziehung hat sich verändert, als mir das Buch „Wir Kinder der Kriegskinder“ von Anne-Ev Ustorf in die Hände viel und ich den Kriegsenkel Jahreskurs bei Sven Rohde besuchte.
„In einem Buch, Film oder Medienbeitrag über dieses Kunstwort „Kriegsenkel“ zu stolpern, ändert viel. Dort ist auf einmal das ganze Bündel von Symptomen beschrieben, die sie nur zu gut aus ihrem eigenen Leben kennen: Bindungsprobleme mit den Eltern, innere Einsamkeit, rastlose Suche nach Sinn und Heimat, Ringen um Erfolg im Beruf. Dieser Blitzschlag der Erkenntnis bewirkt Erleichterung und Schock zugleich.“ (Sven Rohde Autor und Coach)
Ich verstand durch die Auseinandersetzung damit, was meine Eltern im Krieg erlebt und erlitten hatten, besser, was meine Eltern zu dem Verhalten veranlasst hat, an dem ich mich bislang abgearbeitet hatte und das sie aus meiner Perspektive unbedingt abzulegen hatten. Der Schlüssel dafür waren Empathie und Mitgefühl, die es mir ermöglichten, eine andere Haltung meiner Mutter gegenüber einzunehmen, weil sie es in ihrem Leben nicht geschafft hatte, sich aus ihrem Nationalsozialismus- und Kriegs-Trauma zu befreien. Meine veränderte Haltung ermöglichte eine entspanntere Gesprächsatmosphäre, und erleichterte Konfliktlösungen, trotzdem meine Mutter nicht mehr in der Lage war, ihr Verhalten von sich aus zu ändern.
Indem wir uns in die Lage des anderen versetzen und Empathie zeigen, können wir besser verstehen, warum bestimmte Themen oder Erinnerungen so sensibel sind. Wir sollten darauf achten, unsere eigene Sichtweise nicht als einzige Wahrheit anzusehen und stattdessen offen für verschiedene Perspektiven und Problemlösungen sein.
Die vier Seiten der Empathie
1. Schritt: Wahrnehmung
Beachte, wie es der/dem anderen geht. Achte dafür auf Gestik, Mimik, Stimme, Körpersprache und die Aussagen. Frage Dich, welche Emotionen sind gerade mit ihm Spiel?
2. Schritt: Verständnis
Überlege, warum es der/dem anderen so geht? Welche Ursachen gibt es dafür? Welche Motive stecken dahinter? Welche Umstände wirken auf die Aussage ein?
3. Schritt: Resonanz (Mitschwingen)
Bedenke, kann und will ich Rücksicht nehmen, akzeptieren? Wie kann ich darauf angemessen reagieren? Welche Worte wähle ich? Was kann ich tun? Wie äußere ich mein Verstehen, meine Akzeptanz, mein Mitgefühl?
4. Schritt: Antizipation (Vorwegnahme)
Wäge ab, wie könnte der/die andere darauf emotional oder rational reagieren?
Diese Schritte helfen Dir, Deine Kommunikation auf Deinen Gesprächspartner*in einzustellen und damit die Wahrscheinlichkeit auf Konfliktlösungen zu erhören.
„Wir sind nicht mehr so richtig jung, doch alt sind und fühlen wir uns auch noch nicht: Jetzt ist noch Zeit, etwas zu ändern.“
(Sven Rohde Autor und Coach)
Wenn Dich Deine pflegebedürftigen Eltern wiederholt auf die Palme bringen, hilft Dir Empathie wieder herunter. Indem Du ihre Motive und Befürchtungen besser verstehst, sie aufnimmst, berücksichtigst und ansprichst, kannst Du aus Ängsten resultierende Widerstände sowohl bei Deinen pflegebedürftigen Eltern als auch bei Dir leichter auflösen. Dadurch bekommt Ihr die Chance, in Frieden und Versöhnung voneinander Abschied zu nehmen, wenn es so weit ist. Und das wird Dir Dein Leben zugleich befreien und bereichern.
Am Ende Ihres Lebens, waren meine Mutter und ich ausgesöhnt. Mein Mitgefühl für die Folgen ihrer desaströsen Kriegskindheit im Nationalsozialismus und ihre damit verbunden psychischen "Besonderheiten", hat mir geholfen, dass zu tun, was ich mir von ihr gewünscht hätte, Sie anzunehmen wie sie ist. Empathie, war der Schlüssel dazu, die durch Ihre Pflegebedürftigkeit entstandenen Konflikte zu lösen.
Referenzen
Wir Kinder der Kriegskinder , Anne-Ev Ustorf
Danksagung
Danke Dir Sven, dass Du Deine Schreibe-Klausur in der Bretagne unterbrochen und mir Deine Zitate zur Verfügung gestellt hast!
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